Der Kunde hat nicht immer recht.

11. November 2024

Autoren

Matthew Finio

Content Writer, IBM Consulting

Amanda Downie

Editorial Strategist, AI Productivity & Consulting

Der Kunde hat nicht immer recht.

Ein Restaurantgast beendet seine Mahlzeit, beschwert sich dann über die Qualität des Essens und verlangt einen Preisnachlass. Ein Kunde gibt ein Elektro-Gerät mit Wasserschaden zurück und besteht darauf, dass das Geschäft die Garantie anerkennt und die offensichtliche Fehlbedienung ignoriert. Ein Fluggast nimmt einen freien Sitzplatz in einem teureren Teil des Flugzeugs ein, obwohl er nicht für das Upgrade bezahlt hat.

Was sind die Grenzen für Unternehmen, wenn es um Kundenwünsche geht? Fünfundsiebzig Prozent der CEOs sind der Meinung, dass das Verständnis der Kundenbedürfnisse der wichtigste Faktor für das Unternehmenswachstum ist.1 Allerdings ist das strikte Festhalten an der Philosophie „der Kunde hat immer recht“ kein praktisches oder vorteilhaftes Geschäftsmodell. Diese Regel kann zu erheblichen Problemen führen und unangemessenes oder unhöfliches Verhalten fördern. 

Die Geschichte zu „Der Kunde hat immer recht“

Der Satz „Der Kunde hat immer recht“, der dem Londoner Einzelhändler Harry Gordon Selfridge aus dem frühen 20. Jahrhundert zugeschrieben wird, entstand, als Kundenservice noch nicht die Bedeutung hatte, die ihm heute zugeschrieben wird. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Einkäufe größtenteils Transaktionen, die sich am Grundsatz „caveat emptor“ orientierten – frei übersetzt: „Der Käufer sei gewarnt“. Die Einzelhändler verkauften oft fehlerhafte Waren, machten überflüssige Angaben und boten wenig Unterstützung an, sodass die Käufer diese Risiken selbst tragen mussten.

Damals verkauften Händler oft minderwertige oder gefälschte Produkte, bei denen billige Stoffe und andere Materialien fälschlicherweise als hochwertig oder exotisch dargestellt wurden. Behauptungen, sie seien „von Ärzten empfohlen“ oder „wissenschaftlich bewiesen“, waren weit verbreitet – Gesundheitstonika versprachen, Beschwerden von Kopfschmerzen bis hin zu Tuberkulose zu heilen, waren aber oft medizinisch nicht fundiert und enthielten manchmal gefährliche Substanzen wie Morphium und Kokain. Chinesische Arbeiter führten Schlangenöl als traditionelles entzündungshemmendes Mittel in die USA ein, aber die amerikanischen Verkäufer ersetzten es häufig durch billigere Öle oder sogar Opium. Dies führte dazu, dass „Schlangenöl“ zu einem Begriff für gefälschte Heilmittel und „Schlangenölverkäufer“ für Verkäufer wurde, die mit fragwürdigen Produkten handeln.

In diesem unregulierten Umfeld bot sich Selfridge und anderen Pionieren des Einzelhandels, darunter Marshall Field in Chicago und John Wanamaker in Philadelphia, die Möglichkeit, sich von der Konkurrenz abzuheben, indem sie sich auf die Kundenzufriedenheit konzentrierten.

Der Grundgedanke hinter „Der Kunde hat immer recht“ war revolutionär, denn er signalisierte einen Wandel in der Art und Weise, wie Unternehmen ihre Kunden behandelten. Selfridge, Field und Wanamaker erkannten, dass dauerhafter Erfolg vom Aufbau von Vertrauen und Loyalität abhängt, was bedeutete, dass sie auf Kundenbeschwerden eingingen und die Kunden mit Würde und Respekt behandelten, selbst wenn die Beschwerden der Kunden unangemessen erschienen. Mitarbeiter wurden ermutigt, eine einladendere Customer Experience zu schaffen. Dieser Wandel trug dazu bei, ein neues Zeitalter des Handels einzuleiten, das auf Vertrauen und Folgegeschäften beruhte.

Mit der Zeit wurde das Prinzip „Der Kunde hat immer recht“ dahingehend kritisiert, dass es unrealistische Forderungen und sogar missbräuchliches Verhalten ermöglicht. Inzwischen bevorzugen viele Unternehmen einen ausbalancierten Ansatz und betonen stattdessen, dass „der Kunde es verdient, gehört zu werden“. Mit dieser Sichtweise wird die Kundenzufriedenheit aufrechterhalten, während gleichzeitig die Mitarbeiter respektiert und gesunde Grenzen gesetzt werden.

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Wie die Aussage „Der Kunde hat immer recht“ dem Geschäft schaden kann

Bei „Der Kunde hat immer recht“ wird die Notwendigkeit klarer Grenzen in den Kundenbeziehungen übersehen. Wenn Kunden immer recht bekommen, kann es sein, dass sie das ausnutzen. Zum Beispiel mit unrealistischen Forderungen. Zu solchen Anfragen können häufige Rücksendungen, ungerechtfertigte Beschwerden oder das Einfordern von hohen Rabatten gehören. Wenn man auf jede Nachfrage eingeht, kann das zu Verwirrung darüber führen, was das Unternehmen realistischerweise anbieten kann. 

Im Folgenden finden Sie einige Gründe, warum „der Kunde hat immer recht“ nicht immer eine gute Geschäftspolitik ist: 

  • Beeinträchtigung der Nachhaltigkeit: Wer sich ständig verbiegt, um es den Kunden recht zu machen, unabhängig von den Umständen, schafft unhaltbare Geschäftspraktiken. Gibt ein Unternehmen beispielsweise routinemäßig Rabatte oder Rückerstattungen auf Anfrage, auch wenn diese nicht gerechtfertigt sind, kann dies die Einnahmen schmälern und zu einem Burnout der Mitarbeiter führen. Die Priorisierung angemessener Anfragen trägt dazu bei, dass ein Unternehmen seine betriebliche Effizienz aufrechterhalten kann und die Mitarbeiter zufriedener sind.

  • Verschwendung der Ressourcen durch unverhältnismäßige Forderungen: Unternehmen haben nur begrenzte Zeit, Geld und Personal. Die exzessive Betreuung schwieriger oder unvernünftiger Kunden verschlingt Ressourcen, die besser für loyale, kooperative Kunden eingesetzt werden könnten. Wenn man beispielsweise Stunden damit verbringt, die Beschwerden eines sehr schwierigen Kunden zu bearbeiten, kann das die Aufmerksamkeit von Kunden ablenken, die den Service zu schätzen wüssten, und der Gesamtleistung des Unternehmens schaden.

  • Die Moral der Mitarbeiter leidet: Den Kunden ständig recht zu geben, selbst wenn sie im Unrecht sind, kann die Mitarbeiter demoralisieren. Fühlen sie sich verpflichtet, schlechte Behandlung zu tolerieren, um die Kunden zufriedenzustellen, fühlen sie sich wahrscheinlich unterbewertet und verlieren ihre Motivation, was insgesamt zu weniger zufriedenen Kunden führen kann. Zufriedene Kunden sind oft das Ergebnis zufriedener Mitarbeiter – Mitarbeiter, die sich respektiert fühlen und ihren Arbeitgeber unterstützen. 

  • Andere Kunden leiden: Wenn zu viele Ressourcen für die Anforderungen einiger weniger schwieriger Kunden aufgewendet werden, kann das Team überfordert sein, was der Customer Experience insgesamt und dem Ruf des Unternehmens schadet. Wenn zu viele Mitarbeiterstunden für die Bearbeitung einer unangemessenen Anfrage aufgewendet werden, könnten andere Kunden Verzögerungen erfahren oder sich übergangen fühlen. Eine faire Prioritätensetzung steigert die allgemeine Kundenzufriedenheit.

  • Kunden haben manchmal Unrecht: Kunden sind nicht immer gut informiert und können unrealistische Erwartungen haben oder Produkte missverstehen. Sie versuchen oft, das Beste für sich herauszuholen, indem sie z. B. Ersatz für ein Produkt verlangen, das sie offensichtlich falsch verwendet haben. Der Versuch, jede ihrer Forderungen zu erfüllen, selbst wenn sie falsch oder unvernünftig sind, kann nach hinten losgehen. Es ist besser, sie aufzuklären und anzuleiten, als überzogenen Forderungen einfach zuzustimmen.

  • Das führt zu Konflikten zwischen Management und Mitarbeitern: Wenn man sich zu streng an „der Kunde hat immer recht“ hält, kann zu Spannungen zwischen Management und Mitarbeitern führen. Wenn sich Mitarbeiter bei der Einhaltung von Unternehmensrichtlinien, die einen Kunden verärgern, nicht unterstützt fühlen, kann dies das Vertrauen an die Führung angreifen. Unternehmer, die ihre Mitarbeiter unterstützen, fördern die Loyalität, das Engagement und den Erfolg ihrer Kunden und des Unternehmens.

  • Schlechtes Benehmen sollte nicht toleriert werden: Manche Kunden nutzen Unternehmen aus, die das Credo „der Kunde hat immer recht“ befolgen, und behandeln die Mitarbeiter schlecht. Wenn ein Kunde verbal ausfällig wird, das Unternehmen aber darauf besteht, ihn zufriedenzustellen, signalisiert das, dass schlechtes Verhalten akzeptabel ist. Eine unterstützende Haltung gegenüber dem Personal fördert ein sicheres, respektvolles Umfeld und verhindert eine toxische Arbeitsplatzkultur.

  • Erwartungen zu übertreffen ist besser, als sie zu erfüllen: Anstatt Kunden blind zuzustimmen, sollten sich Unternehmen darauf konzentrieren, die Erwartungen zu übertreffen, indem sie Lösungen anbieten, die einen Nutzen für beide Seiten bringen. Zum Beispiel kann das Angebot durchdachter Alternativen oder Upgrades Kunden weitaus mehr beeindrucken, als jede einzelne Anfrage zu erfüllen. Mit diesem Ansatz wird die Unternehmensintegrität gewährleistet und nicht nur kurzfristige Anforderungen erfüllt.

Was tun, wenn sich der Kunde irrt

Wenn der Kunde nicht recht hat, ist es wichtig, die Situation durchdacht und konstruktiv anzugehen. Hier sind einige Schritte, die Sie unternehmen können:

  1. Empathie: Geben Sie dem Kunden die Möglichkeit, seine Bedenken ohne Unterbrechung zu äußern. Zeigen Sie Einfühlungsvermögen und Verständnis, auch wenn Sie glauben, dass er sich irrt. Das hilft, die Situation zu deeskalieren.

  2. Bewertung der Situation: Ermitteln Sie, ob die Kundenbeschwerde auf ein Missverständnis, Fehlinformationen oder unangemessene Erwartungen zurückzuführen ist. Sammeln Sie relevante Informationen, um das Problem zu klären. Sammeln Sie relevante Informationen, um das Problem zu klären.

  3. Klären Sie den Kunden auf: Informieren Sie den Kunden höflich und präzise, damit er die Situation versteht. Verwenden Sie eine klare, nicht konfrontative Sprache, um etwaige Missverständnisse zu erklären.

  4. Professionell bleiben: Bleiben Sie ruhig und respektvoll, unabhängig davon, wie sich der Kunde verhält. Vermeiden Sie es, defensiv zu werden oder sich auf einen Streit einzulassen, da dies die Spannungen eskalieren lassen kann.

  5. Grenzen setzen: Wird ein Kunde beleidigend oder stellt er unangemessene Forderungen, ist es wichtig, klare Grenzen zu setzen. Erklären Sie höflich, was angemessen ist und was Ihr Unternehmen tun kann und was nicht.

  6. Gemeinsame Lösungen suchen: Konzentrieren Sie sich darauf, eine Lösung zu finden, die sowohl den Bedürfnissen des Kunden als auch den Richtlinien Ihres Unternehmens gerecht wird. Dazu können alternative Produkte, Rabatte oder andere faire Ausgleichsmöglichkeiten gehören.

  7. Nein sagen: Wenn die Forderungen eines Kunden unrealistisch oder schädlich für Ihr Unternehmen sind, sollten Sie darauf vorbereitet sein, sie abzulehnen. Erklären Sie bestimmt, aber respektvoll, warum Sie die Forderung nicht erfüllen können.

  8. Dokumentation des Kundenkontakts: Dokumentieren Sie die Interaktion detailliert, um Tendenzen bei bestimmten Kunden zu erkennen und Verbesserungen bei der Mitarbeiterschulung und -politik zu erzielen.

  9. Überprüfen und reflektieren: Nach Klärung der Situation sollten Sie über die Interaktion nachdenken. Überlegen Sie, was bei zukünftigen Begegnungen verbessert werden könnte, sowohl im Hinblick auf den Kundenservice als auch auf interne Prozesse.

  10. Follow-up: Nach dem Gespräch sollten Sie sich mit dem Kunden in Verbindung setzen. Bestätigen Sie ihm, dass seine Anliegen berücksichtigt wurden, und knüpfen Sie an die Verbindung wieder an. Ein Follow-up zeigt, dass man sich wirklich um die Bedürfnisse des Kunden kümmert und sich für eine Verbesserung des Service einsetzen.
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Ein besserer Ansatz

Doch die Zeiten haben sich geändert. Für moderne Unternehmen ist ein wirksamerer Grundsatz als „der Kunde hat immer recht“ der Grundsatz „der Kunde verdient es, gehört zu werden“, oder vielleicht noch konkreter: „erfolgreiche Geschäftsabschlüsse erfordern gegenseitigen Respekt und Zusammenarbeit“. 

Bei diesem Ansatz wird anerkannt, dass die Kunden zwar geschätzt und ernst genommen werden sollten, die Würde und das Wohlbefinden der Mitarbeiter aber ebenso wichtig sind. Die Beibehaltung eines ausbalancierten Ansatzes – bei dem sowohl die Kundenbedürfnisse als auch die geschäftlichen Möglichkeiten berücksichtigt werden – kann Unternehmen in die Lage versetzen, positivere Erfahrungen zu schaffen, die zu loyalen, zufriedenen Kunden, glücklicheren Mitarbeitern und einem nachhaltigeren Geschäftsmodell führen.

Durch die Förderung eines Klimas, in dem sowohl Kunden als auch Mitarbeiter konstruktiv miteinander umgehen, können Unternehmen die Customer Experience verbessern und Vertrauen und Verantwortlichkeit aufbauen.

Wenn Unternehmen die Kundenperspektive in den Vordergrund stellen, können sie sorgfältig auf ihre Anliegen eingehen, ohne Kompromisse bei den eigenen Grundsätzen einzugehen oder Ressourcen zu überstrapazieren. Werden Mitarbeiter dazu ermutigt, mit Kunden zusammenzuarbeiten, entsteht eine partnerschaftliche Dynamik, die für beide Seiten vorteilhafte Lösungen anstrebt. 

Indem klare Grenzen für angemessenes Verhalten festgelegt werden, kann sichergestellt werden, dass sich jeder respektiert fühlt, die Integrität des Unternehmens geschützt und gleichzeitig loyale Kundenbeziehungen gefördert werden. Dieser ausgewogene Ansatz, bei dem Kunden fair behandelt werden, aber auch Grenzen gesetzt werden, führt zu besseren Ergebnissen und nachhaltigem Erfolg.

Bei einer erfolgreichen Geschäftsstrategie geht es letztlich nicht darum, jeden Kunden zu gewinnen, sondern die richtigen Kunden. Dabei geht es um Vertrauen und den Aufbau dauerhafter Beziehungen zu Kunden, die das Know-how des Unternehmens schätzen und respektieren. Das Unternehmen und seine Mitarbeiter müssen für den langfristigen Erfolg gerüstet sein. Und manchmal bedeutet dies, dass man akzeptieren muss, dass der Kunde nicht immer recht hat. 

Fußnoten

 CEO decision-making in the age of AI, IBM Institute for Business Value, ursprünglich veröffentlicht am 26. Juni 2023.

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